Menschen, Schicksale, Pianos – Teil 3

Vom Obdachlosen zum Starpianisten?

Warum aus dem Caveman keine Cinderella wird. Und Geschichten von Obdachlosen, die ihrem Leben mithilfe von Musik eine neue Richtung gaben, uns doch berühren und ermutigen dürfen.

Manche Storys scheint es nur im Film zu geben. Dass ein begabter Pianist als Obdachloser in einer Höhle lebt und aufgrund seines virtuosen Spiels eine zweite Chance erhält, erinnert beispielsweise an Kasi Lemmons amerikanisches Filmdrama „The Caveman’s Valentine“. Während sich aber in Lemmons Drama kein wirkliches Happy End einstellen will, schreibt das Leben zuweilen die schöneren Geschichten. Von Menschen, die ihre Obdachlosigkeit mithilfe frei zugänglicher Pianos überwinden konnten. Und von kleinen Alltagshelden, die im Hintergrund wirken, um solche Geschichten zu ermöglichen.

Große Namen, erstaunliche Geschichten: vom Obdachlosen zum Pianisten

Kennen Sie Donald Gould, Ryan Arcand, Benjamin Sainte-Clementine? Das sind drei Männer, deren Lebenswege und Schicksale nicht unterschiedlicher hätten verlaufen können. Was sie eint, ist, dass sie alle eine Zeit lang auf der Straße lebten. Als Bettler oder Straßenmusikanten. Als Menschen, für die man Mitleid empfindet, ohne zu ahnen, was wirklich in ihnen steckt. Und dass die Musik ihrem Leben eine entscheidende Wende gab.

Doch was klingt wie die berühmte amerikanische Maxime „vom Tellerwäscher zum Millionär“, erweist sich in jedem einzelnen Fall als tiefgründige Story, der wir mit reißerischen Überschriften nicht gerecht werden. Dennoch ermutigen sie uns, niemals zu früh aufzugeben. Weshalb wir unsere kleine Artikelreihe über „Menschen, Schicksale und Pianos“ mit den Geschichten dieser vermeintlichen „Verlierer“ beenden möchten.

Keine männliche Cinderella: Benjamin Sainte-Clementine

Der jüngste von ihnen, Benjamin Sainte-Clementine ist mittlerweile international erfolgreicher Songwriter und Musiker. 1988 in London geboren, machte sich Sainte-Clementine als Zwanzigjähriger auf, um Paris zu erobern. Allerdings: Es fehlte an Geld, an Beziehungen, an einer festen Anstellung. Weshalb Sainte-Clementine die ersten Jahre in Paris auf der Straße lebte und musizierte und sich nur gelegentlich mal eine Übernachtung in einem Hostel leisten konnte. Bis er schließlich auf ganz klassische Weise „entdeckt“ wurde.

Sainte-Clementine weiß also, was es bedeutet, auf der Straße zu leben. Und er weiß, dass er neben seinem Talent einfach Glück hatte – eine allgemein gültige Geschichte lässt sich daraus nicht ableiten. Er hat überlebt, andere gehen am Leben in der Obdachlosigkeit zugrunde. Geprägt haben ihn seine Erfahrungen aber sicher auch musikalisch.

Was Sainte-Clementine von anderen Obdachlosen unterscheidet, ist, dass er nicht in die Obdachlosigkeit geriet, weil sein bisheriger Lebensentwurf scheiterte. Stattdessen nahm er die Obdachlosigkeit in Kauf, um seinen eigenen Lebensentwurf durchzusetzen. Vielleicht lehnt er es deshalb ab, wenn man seine zeitweilige Obdachlosigkeit rückblickend glorifiziert und einen Cinderella-Mythos daraus kreiert.

Nicht die Erweckung von einer männlichen Cinderella zum Star war es nämlich Sainte-Clementine zufolge, die seinem Leben eine neue Richtung gab. Sondern die frühe Liebe zum Piano und die Eigenwilligkeit, mit der er daran festhielt. Dennoch haben ihn seine Erfahrungen geprägt. Und er würde gern Klaviere kaufen, um sie an öffentlichen Orten aufzustellen. „Put pianos everywhere!“ (engl.), zitierte ihn schon 2014 die Onlineredaktion von The Guardian in einem Porträt des Musikers.

Leben mit dem Alkohol und der Musik: Ryan Arcand

Irgendwer muss das gehört und für bare Münze genommen haben. Nur dass das Klavier, an das sich der kanadische Obdachlose Ryan Arcand wenig später setzte, nicht im Londoner Stadtteil Edmonton Green, wo das Interview mit Sainte-Clementine stattfand, am Straßenrand stand. Sondern in Edmonton, der Hauptstadt der kanadischen Provinz Alberta.

Gibt es so etwas wie eine typische Obdachlosen-Karriere, dann ist Arcand wohl das beste Beispiel dafür. Aufgewachsen in wechselnden Pflegefamilien, schon in jungen Jahren strauchelnd, greift er zum Alkohol und landet auf der Straße.  Seit über zwei Jahrzehnten ist er bereits obdachlos, als er bei seinen Streifzügen durch  Edmonton zufällig ein herrenloses Klavier entdeckt, das jemand an den Straßenrand gestellt hat. Er spielt ein Stück, das er selbst komponiert hat. Und trotz des laut rauschenden Verkehrslärms bleibt die Passantin Rosyln Polard stehen, lauscht den Klängen und bittet darum, ein Video aufnehmen und es ins Netz stellen zu dürfen.

Es dauert gerade mal 24 Stunden, bis 800.000 Nutzer das Video auf YouTube angeklickt haben. Sieben Tage später sind es bereits 2 Millionen Menschen, während Arcand von dem Hype um seine Person zunächst gar nichts mitbekommt.

Der weitere Verlauf der Story zeigt, dass auch Arcand nicht zur Vermarktung als „ männliche Cinderella“ taugt. Er steigt auch nicht wie ein Phönix aus der Asche, um seine früheren Gewohnheiten abzustreifen, sondern konsumiert weiterhin Alkohol in zu großen Mengen. Dennoch bewegt sich etwas in seinem Leben. Er bekommt ein Zimmer in einem Obdachlosenheim. Und ein eigenes Klavier. Auf dem er nun täglich musizieren kann, für sich, für die anderen, die seine Art zu leben mit ihm teilen.

Und die Story zeigt, dass es nicht allein der plötzliche Hype ist, der sich für Ryan Arcand als Chance erweist. Sondern seine frühe Begegnung mit einem Piano – in einer der vielen Pflegefamilien, durch die er als Jugendlicher gereicht worden war.

„Put pianos everywhere“: Wie Donald Gould die Sucht besiegte

Die Idee, Pianos an öffentlichen Orten aufzustellen, hat bereits 2008 überall auf der Welt Freunde gefunden. In München beispielsweise findet regelmäßig das vom Verein Isarlust e.V. mit organsierte Event Play Me, I’m Yours statt, über das wir hier schon einmal berichtet haben.

In diesem Jahr vom 31.08. bis zum 17.09.2017. Im Rahmen der Play Me, I’m Yours Veranstaltung werden im öffentlichen Raum frei zugängliche Klaviere aufgestellt.

Auch die Piano Express GmbH, der Betreiber dieses Klaviertransport-Blogs, hat sich in der Vergangenheit für diese karitative Kunstaktion bereits eingebracht.

Für Donald Gould, den wohl berühmtesten Obdachlosen Floridas, wurde der Moment, da er sich an eines dieser öffentlich aufgestellten Klaviere setzte, tatsächlich zum entscheidenden Wendepunkt. Der frühere Soldat, war nach dem Selbstmord seiner Frau ins Straucheln gekommen. Mit 34 Jahren war er drogen- und alkoholsüchtig und verlor auch noch das Sorgerecht für seinen Sohn. Gould wurde obdachlos und geriet in die übliche Tretmühle. Kein Geld, keine Wohnung, keine Wohnung, kein Job …

Doch auch Gould trug die früh geweckte Liebe zur Musik in sich und das Talent zum Pianospiel. Und wie im Fall von Ryan Arcand war es eine zufällig vorbeikommende Passantin, die Gould beim Klavierspielen filmte, das Video ins Netz stellte und ihm damit zu einem umwerfenden viralen Erfolg verhalf. Neben der öffentlichen Anerkennung waren es dann allerdings eine Reha-Kur, eine ungewöhnliche Freundschaft und 40.000 Dollar, die Gould halfen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen und eine Karriere als Studio-Pianist zu beginnen – gesammelt wurde das Geld von seiner Fangemeinde.

Nicht jede rührende Story hat ein Happy End …

Geschichten von Menschen wie Sainte-Clementine, Arcand oder Gould berühren uns. Sie zeigen uns, dass es im Leben manchmal besser ausgeht als im Film. Doch sie dürfen uns nicht zu der Annahme verführen, dass jeder es schaffen könne, wenn er nur wolle und ein wenig Aufmerksamkeit erfährt.

Alan Donaldson beispielsweise hat es nicht geschafft. Der Obdachlose wurde ebenfalls durch ein ins Netz gestelltes Video bekannt, das viel Aufmerksamkeit erfuhr. Donaldson (die Mirror berichtete auch unter dem Namen Alan Palmer über ihn) starb kurze Zeit später. Er wurde auf der Straße gefunden, in seinem Schlafsack, der auch auf den Videos zu sehen war, umgeben von gebrauchten Drogen-Spritzen.

Kurz zuvor hatte Alan noch an einem öffentlich zugänglichen Piano gesessen und Stücke von Beethoven gespielt. Seit eineinhalb Jahren war er obdachlos – und es dauerte ein wenig, bis sich seine Finger an die Stücke, die er in seinem früheren Leben erlernt hatte, erinnerten. Dann aber rührte seine Intonation Passanten, die eben noch über ihn gelacht hatten, zu Tränen.

Das Klavierspiel im öffentlichen Raum, hat Alans Leben nicht retten können. Aber es hat ihm für einige Momente seine Würde zurückgegeben. Denn, so äußerte er sich einem Journalisten gegenüber: „Die Menschen werfen mir vor, dass ich bettle. Aber wenn ich am Klavier sitze, lassen sie mich in Ruhe.“

… und nicht jeder Held wird öffentlich genannt

Nicht jeder Obdachlose ist ein Held, ein Virtuose, einer, der besondere Talente mit sich bringt. Und nicht jedem Gefährdeten rettet die Musik das Leben. Dennoch fällt an all diesen Geschichten auf, dass die frühe Begegnung mit Musik, das Erlernen eines Instruments und hier insbesondere das Klavierspiel in schweren Stunden vielfach zum Rettungsanker wird. Man kann also gar nicht früh genug damit beginnen, Kindern den Zugang zur Musik ermöglichen. Und sich Sainte-Clementines Forderung anzuschließen: „Put Pianos everywhere!“

Bemerkenswert scheint uns, die wir regelmäßig auch für soziale Projekte Klaviere transportieren, dass es gerade die kleinen ungenannten Heldentaten sind, die dazu beitragen, dass sich so großartige Geschichten wie die von Arcand oder Gould ereignen können. So berichtete eine der Organisatorinnen von Play Me, I’m Yours in München beispielsweise, dass sich viele Menschen Sorgen machen würden, die aufgestellten Klaviere könnten von Obdachlosen beschädigt werden. Dabei ist das Gegenteil der Fall! Gerade Obdachlose haben sich der Klaviere angenommen und helfen, diese während des gesamten Aktionszeitraumes zu pflegen.

Es sind eben nicht immer die berühmten Heldentaten allein, die den Hintergrund einer Story ausmachen. Sondern die kleinen Alltagshelfer, von denen in den großen, bewegenden Geschichten selten berichtet wird.

 

Lesen Sie auch aus unserer Serie:
Menschen, Schicksale, Pianos – Teil 1"
Menschen, Schicksale, Pianos – Teil 2"