Kostenlos Klavierspielen lernen oder besser, weil lukrativ, Klavierspielen lehren?

Man müsste Klavier lehren können – kostenlos, aber nicht umsonst

Man müsste Klavier spielen können“ – trällerte einst Johannes Heesters. Doch für viele Menschen bleibt dies schon aus Kostengründen ein Traum. Abhilfe schaffen will ein Onlineangebot, das bereits 2008 als französischsprachige Seite unter dem Namen PianoFacile.com startete und 2012/13 mit einem deutschsprachigen und einem englischsprachigen Ableger aufwartete.

Kostenlose Klavierschule online

Auf den ersten Blick erzeugt die deutschsprachige Website „kostenlos-klavier-lernen.com“ einen guten Eindruck. Alles wirkt strukturiert, die Konditionen sind transparent dargestellt. Es gibt zwei Versionen der Klavierschule: eine kostenlose mit insgesamt 16 Lektionen und eine umfangreichere Bezahlversion (Vollversion), die aber mit einem einmaligen Kaufpreis von € 9,90* deutlich unter dem bleibt, was eine einzige Klavierstunde kosten würde.

Innovativer Autodidakt

Aber nicht nur als kostenlos beziehungsweise extrem günstig wird der Klavierunterricht hier beschrieben, sondern auch als „innovativ“. Der Schweizer Webseitenbetreiber Gregory Widmer fasst darin seine Erkenntnisse zusammen, die er als Autodidakt gesammelt hat, und verspricht „eine völlig andere Herangehensweise im Vergleich zu traditionellen Klavierschulen.“

Theorie als Konzentrat

Nun ist es schwer, dieses völlig andere zu beurteilen, wenn man bereits auf ganz konventionelle Art Klavier spielen gelernt hat. Rasch wird aber klar: Um eine traditionelle Klavierschule handelt es sich so wenig wie um eine innovative. Eher um eine etwas umständlich formulierte Notenkunde im Verbund mit einer sehr eigenwilligen Harmonielehre. Wäre Widmer Gemüsehändler, so würde er vermutlich Vitaminpillen und Konzentrate anbieten statt saftige wohlschmeckende Früchte.

Dem Transporteur scheint das zu schwör

Aber auch von einer Vereinfachung lässt sich nicht wirklich reden. Schon gar nicht, wenn Widmer seinen Lernenden empfiehlt, ein Stück in H-Dur nach C-Dur zu transponieren, indem sie 11 Stufen runterrechnen. Denn wenn man sich um Quintenzirkel und Kadenzen auch sonst nicht viel schert, könnte man ganz einfach eine Stufe hinaufgehen. Aber vielleicht denken wir da auch zu sehr in der Logik von Transporteuren, die gern den Weg der geringsten Stufenzahl wählen.

Verzicht auf das Überflüssige

Sehr eigen wirkt auch Widmers praktische Anleitung, mit der eine Bassbegleitung gefunden werden soll. Verdoppeln Sie den Grundton (schlagen Sie also mit Daumen und kleinem Finger jeweils ein C an) und achten Sie dann darauf, wo sich Ihr Zeigefinger befindet. Dort ist dann der fehlende dritte Ton. Klappt nicht immer, aber immer öfter. Nur dumm, wenn der Lernende sich danach richtet und die falsche Taste trifft, weil seine Handgröße sich dem Widmer‘schen Diktat nicht unterwerfen will. Macht aber in diesem Fall auch nichts, denn auf den noch fehlenden, aber völlig überflüssigen vierten Ton (gemeint ist die Quint) können wir unserem Lehrer zufolge ohnehin verzichten. Es bleibt also harmonisch, auch wenn wir mal daneben greifen.

Unser Fazit: Zumindest mit der kostenfreien Version werden die wenigsten Nutzer Klavier spielen lernen. Oder allenfalls ein paar eingängige Schlager in monotoner Begleitung. Wenn das ausreicht, um „Glück bei den Frau‘n“ zu haben, hat sich die Investition in Zeit und Mühe immerhin schon gelohnt.

Bleibt die Frage, ob sich der Aufwand für den Autodidakten selbst lohnt. Interessanter als die Gebühren für die Vollversion dürfte  für ihn ein Blick auf Einnahmen sein, die er über Klicks auf Werbeseiten, die in seine Websites eingebunden sind, vermutlich erzielt. Hinzu kommen Spendenaufrufe für „ehrenamtliche Mitarbeiter“, die die Website nach Aussage von Widmer unentgeltlich betreiben, und natürlich die 3 Millionen Klicks, die bereits 2013 auf seine You-Tube-Videos erfolgt waren. Man müsste Klavier lehren können. Oder eine gute Geschäftsidee haben, die viele Besucher anzieht.

 

* In der französischsprachigen Variante sind es € 14,90 für die Downloadversion und € 24,90 für die Printversion, auf  der englischsprachigen Seite kostet der Download $ 9,90.