Erfahrungsbericht eines Klaviertransporteurs

Die Kunst des langsamen Gehens oder: Warum ich die Schwere liebe.

Es sind immer die letzten Stufen, auf die es ankommt. Es ist der Moment, da du weißt: Gleich haben wir’s geschafft. Wie wir es noch jedes Mal geschafft haben. Und doch bleibt die Anspannung bis zum letzten Moment bestehen. Bis zu den letzten Stufen. Jetzt nicht unvorsichtig werden. Nicht das Ziel vorwegnehmen. Nicht hektisch werden.

Bloß nicht anecken!

8 Stockwerke mit insgesamt 162 Stufen – das sind 162 Herausforderungen. Enge Windungen, niedrige Decken, ein paar Hundert Kilo Gewicht und kaum Möglichkeiten, den Flügel fachgerecht zu fassen. 162 Chancen, irgendwo anzuschlagen oder zu stolpern. Ohne professionelle Erfahrung beim Transport von Flügeln und Klavieren wären wir da nicht weit gekommen. Aber Aufgeben kam ohnehin nicht infrage. Schon wegen der netten Kundin nicht, die ihr gutes Stück unbeschadet transportiert wissen wollte. Aber auch, weil wir selbst es mal wieder wissen wollten. Und letztlich sicher waren: Wir finden eine Lösung. Auch dieses Mal.

Nach der Vorbereitung

162 Stufen vorher lief noch alles nach Plan: Der Flügel wurde wie üblich zunächst auf bereits vorhandene Beschädigungen geprüft. Wurde warm und schützend eingepackt für die lange Reise, die ihm bevorstand. Musste zeitweilig seine Standfüße lassen, damit nichts aneckt. Und passte dennoch mit seinen stolzen 186 Zentimetern Länge nicht in den engen Personenfahrstuhl. Und auch das Treppenhaus war auf ein solch kolossales Instrument nicht wirklich vorbereitet. Also mussten wir improvisieren, Tastentisch nach oben drehen und vorsichtig, vorsichtig, Stufe um Stufe, Eck um Eck uns langsam abwärts bewegen.

Vor der Routine

Und dann sind da eben diese letzten drei Stufen und du musst dich einfach zusammenreißen. Nicht, dass du durch eine unbedachte Bewegung deinen Kollegen aus dem Rhythmus bringst. Nicht, dass du doch noch etwas übersiehst. Du fühlst dich wie ein Sprinter, der auf den letzten Metern zur Zielgerade zum Langsamgehen verdammt wird. Du willst diese verdammte Zielgerade überschreiten, aber wirst du zu schnell, hast du verloren. Und dann bist du endlich da. Setzt den Flügel ab. Es dauert einen Moment, bis du die Leichtigkeit spürst. Die Schwere wirkt nach wie ein Phantomschmerz. Der Rest ist Routine.

Wenn die Schwere weicht

Die 30 Kilometer Fahrtstrecke von Berlin Friedrichshain zum Nikolassee kommen dir dann deutlich kürzer vor als die Zeit, die es benötigt, die letzten drei Stufen zu bewältigen. Klar, was soll auch passieren, der Flügel liegt gut und sicher verpackt im dafür ausgerüsteten Fahrzeug. Du hast die Route studiert und fährst entsprechend langsam und vorsichtig. Stimmst dich mental schon aufs Ausladen und den Hochtransport ein. Und weißt: Wenn du es geschafft hast, ihn sicher nach unten zu bringen, dann bringst du ihn auch unbeschadet in jede luftige Höhe wieder hinauf. Nach den engen Windungen dieses Tages und Treppenhauses waren wir dann aber doch erleichtert, dass wir ihn heute nur noch ins Erdgeschoss tragen mussten. Nach dem Absetzen läuft die Zeit dann rückwärts. Transportsicherung entfernen, den Flügel entpacken, Standfüße wieder anbringen. Noch einmal kontrollieren – keine Beschädigungen erfahren. Eigentlich hatten wir das auch nicht erwartet – aber ein Aufatmen ist es dann doch allemal wert. Das ist der Moment, in dem die Schwere abfällt. In dem du dich mit deiner Kundin freuen kannst. Und dem nächsten Transport mit Gelassenheit entgegensiehst.