Eine Geschichte des Klaviers

Kompromiss oder harmonisches Gotteswerk: das Klavier im Wandel der Jahrhunderte

Bringt Musik die Proportionen des Universums, des Göttlichen zum Klingen? Oder handelt es sich lediglich um die Erzeugung säkularer Klänge, die als Schallwellen physikalisch messbar sind und sich mathematisch berechnen lassen? Die Geschichte und die Entwicklung des Klaviers ist ebenso wie unsere Art zu hören mit solchen und weiteren Fragestellungen auf faszinierende Weise verwoben1. Der folgende Beitrag lädt Sie auf einen kleinen Streifzug durch die Geschichte des Klaviers und seiner Stimmung(en) ein.

Das wohltemperierte Klavier. Kennt doch jeder. Oder doch nicht?

Wer Klavier auf die klassische Art und Weise gelernt hat, der kennt es: „Das wohltemperierte Klavier“, jenes umfassende Übungswerk, das Johann Sebastian Bach im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts komponierte und editierte. Bis heute gehört es zu den Standardwerken des Klavierunterrichts. Nur selten aber taucht im Unterricht die Frage auf, was denn eigentlich ein „wohltemperiertes Klavier“ von einem nicht wohltemperierten Klavier unterscheide.

 
Als Bach sein Lehrwerk veröffentlichte, war es in der Geschichte des Tasteninstruments bereits zu entscheidenden Umbrüchen gekommen. Bis dato hatte man jegliche Tasteninstrumente als „Clavier“ zusammengefasst. Nun aber trafen zwei wichtige Neuerungen zusammen, nämlich die Einführung einer neuen Art, die Tasteninstrumente zu stimmen, die die gesamte europäische Musikgeschichte revolutionierte. Und die Entwicklung des Hammerklaviers, das eine dynamischere Spielweise ermöglichte.

Vom Ungenügen zur fieberhaften Suche nach mehr Dynamik

Bevor das Klavier seinen festen Platz in allen gutbürgerlichen Wohnstuben fand, spielte man Orgel oder Cembalo. Das Cembalo aber erlaubte keine dynamische Spielweise, also keinen flexiblen Wechsel zwischen lauten und leisen Tönen, zwischen Crescendo und Decrescendo, pianissimo und forte.

Dieser Umstand wurde von Klavierbauern und Komponisten als Mangel empfunden und man begab sich auf die Suche nach Lösungen. Der erste namentlich bekannte Klavierbauer, dem es gelang, ein Tasteninstrument zu konstruieren, das Unterschiede im Anschlag und damit in der Dynamik ermöglichte, war der Italiener Bartolomeo Cristofori. Perfektioniert wurde diese Bauweise des Klaviers in den folgenden Jahrhunderten dann quer durch Europa.

Europa sucht das Superpiano

Spanien, Portugal, Italien, Frankreich, Großbritannien, Österreich und schließlich auch in deutschen Landen – überall begann man, an der Weiterentwicklung des Hammerklaviers zu tüfteln. Doch bedurfte es dafür nicht nur der handwerklichen Fähigkeiten, es war auch viel Geld erforderlich, um aus den neuen Ideen einen – wie wir heute sagen würden – tauglichen Prototypen zu entwickeln.

Geld und Fachwissen brachte Gottfried Silbermann ein, der sich als Orgelbauer einen Namen gemacht hatte und der 1726 schließlich ein Piano vorstellte, das nach den Vorgaben von Cristofori erbaut worden war. Weitere Versuche folgten. Auch Johann Sebastian Bach spielte zum ersten Mal im Hause von Silbermann auf einem solchen neuartigen Piano.

Andreas Werckmeister und die Neuberechnung musikalischen Wohlgefühls

Nicht nur die fehlende Dynamik erwies sich für die aufstrebenden Komponisten des Barock und folgender Generationen als ein Widersacher. Auch das Beschränktsein auf bestimmte Tonarten wurde als Schmach empfunden. Mit Blick auf die Tasteninstrumente erwies sich die Verwendung aller Tonarten als eingeschränkt, weil diese zunächst „rein“, später dann „mitteltönig“ gestimmt wurden. Daraus ergaben sich jedoch in bestimmten Tonarten Intervalle, die als dissonant empfunden wurden. Somit konnten diese Tonarten nicht genutzt werden.

Das Ganze zerlegt in die Summe seiner Teile

Während sich die mittelalterliche Gregorianik noch als genügsam erwies, konnte ein Barockmusiker sich damit auf keinen Fall abfinden. So wundert es kaum, dass in eben dieser Epoche der Mathematiker Andreas Werckmeister eine bahnbrechende Änderung in die Musik hineintrug: die wohltemperierte Stimmung, heute als gleichstufige Stimmung bezeichnet. Allerdings mit einem kleinen und nicht aufzulösenden Nachteil: Werckmeisters Berechnungen verhinderten zwar die großen Missklänge innerhalb einzelner Tonarten, führten aber dazu, dass sich dafür überall kleine „Unebenheiten“ einschlichen. Auch veränderte sich der Charakter der Modi. Dafür konnten die Meister des Klaviers nun virtuos quer durch alle Tonarten modulieren, die nicht mehr an den Gesetzen des Universums, sondern an denen des technisch und menschlich Möglichen ausgerechnet waren.

Vom Instrument des Virtuosen zum Volksinstrument

In den kommenden Jahrhunderten wurde der Klavierbau weiter perfektioniert. Statt mit Leder wurden die Hämmer mit Filz ausgestattet, die Mechanik wurde verbessert, die Klaviatur verbreitert und das Piano mauserte sich zunehmend zum Soloinstrument, mit denen sich die großen Virtuosen in die Herzen ihrer Zeitgenossen spielten. Nebenher entwickelte man kostengünstige Varianten wie das Tafelklavier und das Hochklavier, die sich auch der Normalbürger leisten konnte. Um 1850 gehörte das Klavier dann zur Grundausstattung jedes kulturell Gebildeten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es immerhin schon über 200.000 Klaviere, die sich allein in deutschen Haushalten befanden.

Das Klavier als Kompromiss

Mit dem Tasteninstrument ist aber nicht nur der Wunsch nach Musik und Geselligkeit in die häuslichen Musizierzimmer eingezogen. Auch die wohltemperierte Stimmung wurde quasi zur Grundlage jeglichen Hörverständnisses in Sachen Musik. Was bedeutet: Wir haben uns daran gewöhnt, Fehltöne zu überhören, insbesondere im Zusammenspiel zwischen rein intonierten Saiteninstrumenten und dem Piano. Was natürlich nicht für jeden gilt. So beruhigte noch der Cellist Pablo Casals seine Schüler mit den Worten, sie mögen nicht erschrecken, wenn ihre Intonation nicht mit der des Klaviers übereinstimme. Denn: „Das Klavier mit seiner gleichstufigen Stimmung ist ein Kompromiss in der Intonation.“

Vom Instrument des Adels zum Volksinstrument

Das Klavier als Instrument eines faulen Kompromisses? Was die klanglichen Qualitäten im Zusammenspiel mit anderen Instrumenten angeht, mag dies stimmen. Doch wie immer im Leben gibt es verschiedene Sichtweisen auf ein und dasselbe Phänomen. So lässt sich aus den Äußerungen Werckmeisters ablesen, dass sich mit dem Wechsel der Stimmung ein noch viel tiefer greifender Wandel vollzog. Dazu gehört: Statt das geschaffene Universum in seiner Musik abzubilden, stellte sich der fromme Musiker nun in eine harmonisch jubilierende Partnerschaft mit dem Schöpfer. Schließlich konnte Werckmeister zufolge die Wohltemperierung „ein Vorbild seyn/wie alle fromme/und wohl temperirten Menschen mit Gott in stetswährender gleicher/ und ewiger Harmonia leben und jubiliren werden“.

Von hier aus aber erschienen wohl auch die Unterschiede zwischen den Menschen adliger und nicht adliger Herkunft gleich viel geringer. Gelitten haben mag darunter unser Verständnis von den reinen Klängen. Doch für die große Zahl derer, denen das Volksinstrument Klavier zugänglich wurde und viele fröhliche Stunden bescherte, erwies sich dies als ein zu verschmerzender Verlust.

Am Ende eines Streifzugs: Respekt vor einem großen kulturgeschichtlichen Symbol

Unser kleiner Streifzug durch die Geschichte des Klaviers ist natürlich unvollständig. Vieles gäbe es noch zu ergänzen und zu konkretisieren. Was er aber zeigt, ist, warum wir dieses Instrument so schätzen und ihm bei jedem Klaviertransport mit großem Respekt begegnen: weil es einen sehr persönlichen Wert für seine Besitzer hat. Und einen unschätzbaren Wert als kulturgeschichtliches Symbol, das die Kraft hat, Menschen unterschiedlicher Nationen und unterschiedlicher Herkunft zu einen.


(SWV)

1) Vgl. hierzu: Rieger Matthias (2006). Helmholtz' Musicus.